ein Text von Melissa Böhme
Saied K. floh 2015 mit seinem Bruder vor dem Krieg aus Syrien. Heute studiert der 27- jährige Soziale Arbeit an der evangelischen Hochschule und engagiert sich ehrenamtlich in mehreren Organisationen für mehr Toleranz gegenüber Geflüchteten.
Das unvorstellbare Grauen, das Saied in seinen jungen Jahren schon erlebt hat, sieht man ihm nicht an. Mit einem freundlichen Lächeln empfängt er mich vor der Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, die er sich für unser Treffen ausgesucht hat. Sie ist für einen Samstag-Nachmittag ungewöhnlich voll. Um niemanden zu stören, stellen wir uns in eine stille Ecke zwischen den meterhohen Bücherregalen im Bereich Medien.
Saied ist Medien gegenüber skeptisch. In Syrien erlebte er, wie ein Nachbar aus seiner Straße, ein harmloser Lehrer, verhaftet und wenig später als Terrorist diffamiert in den Nachrichten dargestellt wurde. „Das haben sie gemacht, um zu zeigen, dass sie die Bevölkerung schützen wollen und alles unter Kontrolle haben“, sagt er.
Er spricht offen über seine Vergangenheit.
Es gibt keine Tabu-Themen, zu denen ich ihn nicht befragen darf.
Seine Kindheit war glücklich. Wie die meisten Jungen spielte er leidenschaftlich gern Fußball, war sogar Torwart in seinem Team in Damaskus, wo er aufwuchs.
Als der Arabische Frühling 2011 Syrien erreichte, war Saied gerade 17 Jahre alt und studierte Mechatronik in Homs im Westen des Landes. Zunächst wollte er sich nicht in den Konflikt zwischen dem Regime und den Demonstrierenden, die für Freiheit und Demokratie auf die Straße gingen, einmischen. Das Studium war wichtig für ihn und seine Familie.
Erst als er die Gewalt der syrischen Armee gegenüber der eigenen Bevölkerung mit eigenen Augen sah, änderte sich seine Einstellung. Er fing an, selbst an Demonstrationen teilzunehmen; begab sich dabei in Lebensgefahr.
„Ich habe nicht mehr viele Freunde, die ich von früher kenne. Die meisten von ihnen sind schon gestorben oder im Gefängnis. Ich weiß auch gar nicht, ob die, die im Gefängnis sind, noch leben.“
Um sich selbst habe er nie Angst gehabt, sagt er, nur um die Menschen, die er liebt.
2015 sollte Saied in die Armee eingezogen werden. Jene Verbrechen begehen, die er verabscheute.
Weil er als Verräter getötet worden wäre, hätte er den Schießbefehl verweigert, entschloss er sich zur Flucht.
„Meine Eltern waren gegen diese Idee. Ich bin trotzdem mit meinem Bruder gegangen. Das war das einzige Mal, dass ich meinen Vater weinen gesehen habe. Meine Mutter hat sich überhaupt nicht von uns verabschiedet.“
Es folgt ein Höllentrip durch Europa, den Saied als schlimmer empfindet, als den Krieg.
„Könnte ich die Zeit zurückdrehen, wäre ich in Syrien geblieben.“ Er berichtet von seinem gekenterten Schlauchboot im Mittelmeer, den Schreien der Menschen und der Gewalt an den innereuropäischen Grenzen.
Erst in Deutschland konnten er und sein Bruder sich beruhigen- die erste Nacht seit langem durchschlafen.
Ein Bus fuhr die beiden an ihre letzte Station: Dresden. Doch auch hier waren sie nicht überall willkommen.
„Die Ausländerbehörde hier spricht mit dir nur Deutsch, nicht Englisch, egal ob du einen Monat oder ein Jahr in Deutschland bist“. Auch Racial Profiling hat Saied schon oft erlebt. Er fühlt sich schuldig, wenn seine Freunde wegen ihm kontrolliert werden. „Dresden hat ein Problem mit Diskriminierung“, meint er.
Aus diesem Grund und wegen seiner Erfahrungen aus Syrien engagiert er sich auch in Deutschland politisch. 2020 sprach er vor dem Stadtrat, um Dresden zu einem „Sicheren Hafen“ für Flüchtlinge zu erklären – erfolglos.
Er hat Angst, vor der nächsten Wahl und davor, dass mehr ausländerfeindliche Abgeordnete die Zukunft Dresdens entscheiden.
Um dem entgegenzuwirken, tritt er auch als Erzähler bei den „Zeugen der Flucht Dresden“ auf, bei Schulbesuchen berichtet er Schülerinnen und Schülern von seinem Weg nach Deutschland und versucht sie zu sensibilisieren.
Dort hat ihn auch Pauline P. kennengelernt. Sie ist Begleitperson bei den Besuchen und vermittelt bei Verständnisproblemen. „Saied ist total aufgeschlossen, freundlich zu allen und bringt immer gute Laune mit. Er kann sich richtig gut auf die Teenager einstellen und ist offen zu ihnen.“
Kritisieren kann sie an ihm eigentlich nichts. Müsste sie ihn mit drei Worten beschreiben, wären es diese: engagiert, freundlich und Sonnenschein.
Dresden sei trotz mancher Hürden zu seiner zweiten Heimat geworden, erklärt Saied. Er hat viele Freunde gefunden, studiert seit 2020 Soziale Arbeit. „Ich möchte den Menschen hier etwas zurückgeben. Jeder braucht irgendwann einmal Hilfe.“
Wenn er selbst auf andere Gedanken kommen möchte, schreibt er manchmal Gedichte an seinem Lieblingsort in der Stadt. Saied will ihn mir zeigen.
Vor der Bibliothek dreht er sich erstmal eine Zigarette. Dann machen wir uns auf den Weg zur Straßenbahn. Die Fahrt ist schweigsam bis wir am Elbufer halten. Hier erzählt Saied, dass er seine Verse nur auf arabisch schreibt, weil er seine Gefühle in seiner Muttersprache besser ausdrücken kann.
Mit dem Blick zur Frauenkirche frage ich, ob er wieder in den Bus nach Dresden steigen würde. Er überlegt kurz, dann antwortet er: „Nein.“